L'Ascension - Die Himmelfahrt
"Trois Piéces pour le Grand Orgue" (1878) von César Franck (1822-1890).
Orgelzyklus "L'Ascension - Die Himmelfahrt" (1933/34) von Olivier Messiaen (1908-1992) mit einer bildnerischen Darstellung von Ilse Altrogge.
An der Orgel Christian Drengk.
Zwei Sinne wurden am Vorabend von Himmelfahrt, am 16. Mai 2012, in der Auferstehungskirche vom Organisten Christian Drengk und von der bildenden Künstlerin Ilse Altrogge angesprochen: Hören und Sehen.
Das musikalische Erlebnis kann hier nicht wiedergegeben werden, das Seh-Erlebnis versuchen die Fotos der Bilder von Ilse Altrogge nachzuzeichnen.
Die Anmerkungen zu Olivier Messiaen von Reinhard Jung, vorgestellt vor der Aufführung, geben Auskunft über den Komponisten, Olivier Messiaen, und Hinweise zum Experiment, Sehen und Hören zusammenzubringen.
Vier Tafeln (Öl/Hartfaser) von Ilse Altrogge zum Orgelzyklus von Olivier Messiaen - von rechts nach links:
I.Majesté du Christ demandant la Gloire à son Père
II.Alleluias d'une âme qui désire le ciel
III.Transport de joie d'une âme devant la Gloire du christ qui est la sienne
IV.Prière du Christ montant vers son Père
I.Majesté du Christ demandant la Gloire à son Père
(Majestät Christi, der seinen Vater um Verherrlichung bittet)
Vater, die Stunde ist gekommen, verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrlicht.
(Gebet Christi, Evangelium nach Johannes)
II.Alleluias d'une âme qui désire le ciel
(Frohes Alleluja einer Seele, die sich nach dem Himmel sehnt)
Wir bitten dich. o Herr, ... verleihe uns, dass wir selber auch mit unserem Geist im Himmel
wohnen mögen! (Messe an Christi Himmelfahrt)
III.Transport de joie d'une âme devant la Gloire du
(Freudenausbruch einer Seele vor der Herrlichkeit Christi, die ihre eigene ist)
Lasst uns dem Vater danksagen, der uns befähigt hat, am Erbe der Heiligen im Licht teilzunehmen, ...
der uns in Christus auferweckt und einen Platz im Himmel bereitet hat. (Brief des Apostels Paulus an
die Kolosser und Epheser)
IV.Prière du Christ montant vers son Père
(Gebet Christi, zum Vater aufsteigend)
Und nun Vater, ... Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart ... Ich bin nicht mehr in der Welt;
sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir. (Gebet Christi, Evangelium nach Johannes)
Vorgestellt von Reinhard Jung vor der Aufführung des Orgelzyklus L'Ascension - Die Himmelfahrt am 16. Mai 2012 in der Auferstehungskirche.
Erlauben Sie mir bitte, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, einige Hinweise zum nun folgenden Experiment.
Musik erreicht uns über unsere Ohren. Unser Gehör ist der Transportweg, auf dem die Musik in uns hineindrängt und eine Fülle von Wahrnehmungen auslöst, die wir nur unzureichend beschreiben, wenn wir sie ein „Hörerlebnis“ nennen. Womöglich ist es Ihnen schon bei der eben gehörten Musik so ergangen, dass sie mehr erlebt haben als einen akustischen Reizzustand. Vielleicht sind vor Ihrem „inneren Auge“ (so nennen wir das ja etwas ungenau) Farben aufgetaucht, Linien oder Strukturen, Gebirgsmassive, Wolkenformationen oder ganz feine sternhafte Filigrangebilde. Vermutlich haben Sie sich auch weiteren Empfindungen nicht verschlossen: Gefühle von Entspannung, Ruhe, Harmonie könnten sich abgewechselt haben mit Wahrnehmungen von Überraschung, Verunsicherung, Abwehr oder Schmerz. Gedanken werden ihnen gekommen und schnell wieder gegangen sein: an Menschen, Erlebnisse, zeitlich ganz Fernes oder Nahes. Die Musik wird Sie auch körperlich angetastet haben: Manchen läuft eine Gänsehaut über den Rücken, anderen sträuben sich die Haare, einigen fährt die Musik in die Beine, nicht wenigen kommen die Tränen...
Alles dies und noch viel mehr, was sich da an Wahrnehmungen in uns abspielt, nennt man mit einem Fachwort die „synästhetische“ Erfahrung, also die gleichzeitige Aktivierung aller oder vieler unserer Sinne, häufig ausgelöst durch den Reiz einer künstlerischen Produktion.
Der folgende Orgelzyklus von Olivier Messiaen „Die Himmelfahrt Christi“ soll es Ihnen nun ermöglichen, einmal etwas bewusster auf die Vielfalt Ihrer synästhetischen Erlebnisse zu achten. Christian Drengk hat Ilse Altrogge vorgeschlagen, die vier Teile des Zyklus in bildnerische Sprache umzusetzen, damit Sie als Zuhörer zugleich auch Betrachter der Musik sein können. Wenn Sie sich beim Hören in die Farben, Formen und Bewegungen der Bilder versenken, glückt es Ihnen ja vielleicht an der einen oder anderen Stelle, zu dieser erstaunlichen Musik eine Beziehung zu finden, die Sie nachhaltig ergreift. Dann wäre das Experiment gelungen.
Zunächst aber noch wenige Anmerkungen zu Olivier Messiaen und seinem Werk. Dass gerade er es war, von dem sich unsere beiden Interpreten zu ihrem Experiment anregen ließen, ist kein Zufall. Kein anderer Komponist hat sich jemals so intensiv mit der Wirkung von musikalischen Reizen auf die Sinnesvielfalt des Menschen beschäftigt wie Messiaen. Zwei Beispiele nur: Besonders interessierten ihn die Farben, deren Ausdruck, Spannungsverhältnis und Zusammenklang in seiner musikalischen Sprache wiedererscheinen. Man glaubt in manchem seiner Orgelwerke die Farbreflexe von Kirchenfenstern heraushören zu können. Fasziniert war er auch von der unendlichen Vielfalt der Vogelstimmen und allen Klängen der Natur, die in seinen Kompositionen und musiktheoretischen Büchern eine wichtige Rolle gespielt haben.
Messiaen wurde 1908 in Avignon geboren. Katholische Religiosität und literarisch-künstlerische Tätigkeit seiner Eltern haben ihn geprägt. Am berühmten Pariser Conservatoire studierte er Musik und wurde 1931 Organist an der Kirche St. Trinité, wo das Orgelspiel bis zu seinem Lebensende seine Haupttätigkeit geblieben ist. Zugleich beginnt er vorwiegend Orgel- und Orchesterwerke zu komponieren und ab 1936 auch Komposition und Improvisation zu unterrichten. Mit der Erfindung ganz neuer musikalischer Strukturkonzepte, in die auch die außereuropäische Musik eingegangen ist, zieht er viele Schüler an, u.a. Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis. Alle drei werden später zu Wegweisern der zeitgenössischen Musik.
Im zweiten Weltkrieg gerät Messiaen 9 Monate lang im Lager Stalag VIII in Görlitz in Kriegsgefangenschaft. Dort entsteht sein vielleicht bekanntestes Werk, das „Quartett vom Ende der Zeit“, das von musizierenden Mitgefangenen im Januar 1941 im Lagertheater uraufgeführt wird. Vor den deutschen Offizieren in den ersten Reihen und dahinter den Häftlingen erklärt Messiaen zu Beginn: „Das Quartett ist für das Ende der Zeit geschrieben, für das Ende der Begriffe von Vergangenheit und Zukunft, d.h. für den Beginn der Ewigkeit, wobei ich mich auf den herrlichen Text der Offenbarung stützte, wo Johannes sagt: Ich sah einen starken Engel vom Himmel herabkommen, der war mit einer Wolke bekleidet und hatte einen Regenbogen auf dem Haupte... Der mächtige Engel und vor allem der Regenbogen als Symbol für Frieden, Weisheit und lichtgewordene Schwingung sind es, die mich inspirierten.“ Und später notiert einer der gefangenen Mitspieler: „Das Lager in Görlitz, Baracke 27 B, unser Theater. Draußen Nacht, Schnee, Elend, hier ein Wunder. Das Quartett für das Ende der Zeit brachte uns ein wunderbares Paradies, erhob uns von dieser entsetzlichen Erde.“ - Wie ermutigend: Seit 2006 wird in Görlitz eine musikalisch-kulturelle Begegnungsstätte für junge Menschen aus Polen, Tschechien und Deutschland aufgebaut, die sich in Erinnerung an dieses Ereignis „Meeting Point Music Messiaen“ nennt!
Nach dem Krieg ist Messiaen wieder als enorm schöpferischer Mensch in Frankreich und auf Auslandsreisen tätig: als Orgelspieler und -improvisator, Komponist, Hochschullehrer und Verfasser musiktheoretischer Schriften. In seine letzte Lebensphase (er stirbt 1992 in Paris) gehört sein religiöses Vermächtnis, eine große Oper über Franz von Assisi, die 1983 in Paris uraufgeführt wird.
Wie untrennbar Messiaens Musik mit seinen religiösen Erfahrungen verbunden gewesen ist, sehen Sie auf Ihrem Programmzettel: Viele seiner Werke sind ausdrücklich mit theologischen Reflexionen versehen – oder zumindest mit Hinweisen, die die Hörer zur Meditation anregen [diese Reflexionen kommentieren auch die oben wiedergegebenen Fotografien der Bilder]. Auf dieses Ziel sind auch die Bilder von Ilse Altrogge ausgerichtet, die der Symbolik unseres Kirchenraums entsprechend im Zwölfeck gestaltet sind. Auf ihnen ist nichts Gegenständliches zu erblicken, und Sie sollten – wenn ich Ihnen das empfehlen darf – auch nicht danach suchen. Überlassen Sie sich stattdessen ganz den Farben, den Bewegungen und dem Rhythmus. Wenn Sie wollen, können Sie nachher die Bilder im Gespräch mit der Künstlerin auch noch ein wenig länger betrachten. – Und nun möchte ich wünschen, dass Ihnen bei dem jetzt beginnenden Experiment nicht etwa Hören und Sehen vergeht, sondern dass Sehen und Hören Sie erfüllt – nicht zuletzt mit der farbigen Freude von Christenmenschen, die sich zu Himmelfahrt aufgehoben fühlen in Gottes Hand.
April 2016